Als „Inking“ bezeichnen Profizeichner den Schritt, in dem die Zeichnung mit schwarzen (wahlweise auch farbigen) Linien nachgezogen wird. Dabei ist es egal, ob man tatsächlich „Ink“ (also Tinte oder Tusche) verwendet, oder etwas anderes (manche inken auch mit Kuli. Oder mit Buntstiften). Auf jeden Fall ist es ein finaler und endgültiger Schritt, der maßgeblich den Look einer Illustration oder auch einer Mangaseite bestimmt.
Linie ist nämlich nicht gleich Linie. Du hast die Wahl: Willst Du lieber dicke, kräftige Linien ziehen, oder bevorzugst Du feine, dünne? Viele Schwarzflächen, oder lieber wenige? Schraffuren, ja oder nein? Jede dieser Entscheidungen definiert Deinen, höchstpersönlichen Inking-Stil.
Ich habe für Dich diese Zeichnung von meinem Charakter Julian auf 4 verschiedene Weisen ausgearbeitet, um Dir Anregung und Orientierung zu bieten, auf dem Weg zu Deinem Stil. Dabei ist noch zu erwähnen, dass ich eine sehr „saubere“ Inkerin bin, wodurch alle drei Beispiele sehr clean und präzise ausgefallen sind. Wenn Du dazu tendierst, eher skizzenhaft zu arbeiten, behalte das ruhig bei. Es gibt hier keine wirklichen Regeln oder Vorschriften. The sky is the limit! =)
Hier habe ich tatsächlich keine Feder verwendet, sondern einen Fineliner (Stärke 0,3 mm) und versucht, möglichst gleichmäßige Linien gleicher Stärke zu ziehen. Die Zeichnung enthält keine Schraffuren, um Schatten, oder Texturen anzudeuten und die Schwarzflächen sind komplett flächig schwarz, ohne Lichtreflektion. Am ehesten könnte man diesen Stil als Anlehnung an die „Ligne claire“ bezeichnen, ein Begriff, welcher 1976 von Joost Swarte verwendet wurde, um den Zeichenstil des französischen Zeichners Hérges (u.a. „Tim und Struppi“) zu beschreiben. Bei der Ligne claire werden klare und einfache Formen ohne Schraffuren verwendet, die gegen oft sehr aufwändige und detailverlebte Hintergründe kontrastieren. Tatsächlich wird diese Technik in Manga und Anime auch oft eingesetzt: Die Figuren selbst sind einfach gestaltet und fallen so vor detailverliebten Hintergründen mehr auf! Wären sowohl die Figuren, als auch der Hintergrund detailreich, würde man die Übersicht verlieren.
Dieser Stil verfügt über viele Vorteile! Unter anderem ist er nicht so arbeitsintensiv und für den Leser schnell erfassbar, da es keine „ablenkenden“ Zierelemente gibt. Nachteil: Vielleicht etwas statisch. Lässt wenig „Luft“ für die Vorstellungskraft des Lesers. Gerade, gleichmäßige, simple Linien sind auch eine tolle Grundlage für Bilder, die Du anschließend noch mit Farbe versehen willst. Schließlich sollen bei farbigen Bildern die Linien eher in den Hintergrund treten und nicht zu dominant wirken. Auch im Animationsbereich wird mit gleichmäßig dicken Linien gearbeitet, sonst würde der Umriss der Figuren durch unterschiedliche Linienbreiten andauernd „wackeln“.
Hier habe ich ausschließlich mit dem G-Pen gearbeitet, was typisch für die Ausarbeitung von Shônen Manga ist. Im Grunde ist das am ehesten der klassische Manga-Inkingstil, wobei ich dazu neige, beim Tuschen einen sehr starken dick/dünn Kontrast zu erzeugen - wahrscheinlich deutlich kräftiger, als bei den Zeichnungen der meisten japanischen Kollegen. Dieses Spiel von dicker und dünner werdenden Linien nennt man „Duktus“. Der Duktus definiert nicht nur das Aussehen von Zeichnungen, sondern z.B. auch die Gesamtwirkung unseres Schriftbilds. Jeder Zeichner bevorzugt einen anderen Duktus - dadurch entsteht der ureigene Look eines Linearts.
Ich habe mich für zeitsparende, einfache Schraffuren entschieden und für hellere Lichtreflektionen in den Haaren, um der Zeichnung etwas mehr Dynamik zu verleihen. Die Vorteile dieses Stils sind: Er ist immer noch sehr zeitsparend, da man die Feder während der Arbeit nicht wechseln muss und durch die variable Linienstärke, die der G-Pen bietet, sieht das Lineart „manga-mäßiger“ und dynamischer aus, als im ersten Beispiel. Für farbige Bilder ist diese Art der Ausarbeitung nur mäßig geeignet. Das Lineart ist etwas zu grob und zu dominant - besonders durch die Schraffuren.
Dieses Beispiel war mein Versuch, mithilfe des Maru-Pens verträumte Shôjo Lines zu ziehen. :D Da ich eher im Shônen Bereich zuhause bin, war das eine große Herausforderung für mich und ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist (man kommt in Sachen Inking nur schwer aus seiner Haut heraus!). Wahrscheinlich sind in der Zeichnung immer noch zu viele Schraffuren enthalten, um sie wirklich verträumt und luftig wirken zu lassen… aber ich denke, Du siehst zumindest, was gemeint ist.
Hier habe ich versucht, ausschließlich feine, teilweise sogar unterbrochene Linien zu ziehen, was dazu führt, dass das Gesamtergebnis (besonders mit dem Raster zusammen), verträumt und gefühlvoll wirkt. Feine Details bei Haaren und Augen sind typisch für den Shôjo Stil, da der Fokus auf dem Gesicht liegt. Schwere Schraffuren oder zu dominante Schwarzflächen würden diesen Effekt zerstören, daher habe ich mich bemüht, mich diesbezüglich zurück zu halten. =)
Du kannst mit dem Maru Pen allerdings auch ganz anders arbeiten - ähnlich wie mit einem Bleistift und viele, grobe skizzenhafte Linien ziehen. Auch das ist eine Möglichkeit. Die Vorteile sind: Dieser Stil wirkt filigran, elegant und bietet Raum für Gefühle und Emotionen. Der Nachteil ist: Es dauert eine ganze Weile, Haare und Augen so zu gestalten und die ganze Glitzerrasterfolie einzusetzen. Ein Geduldsstil für Romantiker!
Nummer 4 ist vom Look her Nummer 2 sehr ähnlich. Es handelt sich hierbei um meinen eigenen Inkingstil - sozusagen Nummer 2 mit Fleiß-Sternchen - eine Kombination von G-Pen und Maru-Pen.
Die wichtigsten Linien (z.B. den groben Umriss der Figur, die Gesichtslinie, oder die formgebenden Linien der Kleidung) ziehe ich mit dem G-Pen. Die feinen Details (Kleiderfalten, Schraffuren, Texturen) füge ich anschließend mit dem Maru-Pen hinzu. Außerdem mag ich starke Schwarzflächen, um die Dreidimensionalität zu betonen (siehe Innenraum der Kapuze, welche hinter Julians Ohr komplett schwarz ist und auf der anderen Seite zumindest zur Hälfte). Hab keine Angst vor Schwarzflächen - besonders dann nicht, wenn Du auf Rasterfolie verzichtest! Manchmal kann mutig gesetzter, schwarzer Schatten den Unterschied zwischen Mittelmaß und was richtig Gutem ausmachen. Aber übertreib es nicht und überlegt genau, was Du mit diese schwarzen Schatten in Szene setzen willst. Mit Licht und Schatten lenkst Du den Blick des Betrachters! Ich spreche aus Erfahrung, denn ich habe viele Jahre lang fröhlich gleichmäßig schwarze Flächen auf meinen Bildern verteilt und damit jegliche optische Orientierung zunichte gemacht. Gewusel ahoi! :D
Die Vorteile des Stils sind: Er sieht verdammt aufwändig und ambitioniert aus. Strukturen und Texturen kommen gut rüber. Der Nachteil: Er dauert sehr lange, wirkt manchmal statisch und man muss sich ernsthaft überlegen, ob der Unterschied zu Stil 2 groß genug ist, um sich die ganze Extraarbeit aufzuhalsen. Das klingt jetzt etwas pragmatisch und kaltherzig, aber besonders wenn man Comics zeichnet, ist Ökonomie das Stichwort. Wer will schon 10 Jahre an einem Band sitzen? ^^“ Zudem verwässern viele Details manchmal den klaren Ausdruck einer Zeichnung. Alles wirkt weicher und dreidimensionaler, dafür aber büßt man den klaren Informations-Impact beim Leser ein. Zu dem Thema empfehle ich übrigens die Bücher von Scott Mc Cloud. Der erklärt dieses Phänomen äußerst anschaulich und verständlich!
Wie Du siehst, ist es wichtig, dass Du Dir genau überlegst, was Du mit euren Zeichnungen aussagen und wofür Du sie verwenden willst, bevor Du mit dem Outlinen loslegst. Das Inking bestimmt nicht nur den endgültigen Ausdruck Deines Stils, sondern entscheidet vielleicht auch darüber, ob Du 5 Monate an einem Manga arbeiten wirst oder doch ein ganzes Jahr. Wie viel Zeit willst Du Dir für Deine Arbeit nehmen, wie viel kannst Du Dir überhaupt nehmen und wie soll das Ergebnis aussehen, das Dich persönlich glücklich macht?
Finde es heraus! Ich wünsche Dir viel Spaß beim Experimentieren und Rumprobieren!
Melanie Schober, geboren am 23.3.1985 im idyllischen Saalfelden (Österreich) zeichnet seit frühester Kindheit mit Begeisterung Comics und Comic-Figuren. Im zarten Alter von dreizehn Jahren wurde sie mit dem »Sailormoon-Virus« infiziert und widmet sich seither der japanischen Mangakunst.