Über Tobi Dahmen
Tobi Dahmen wuchs in Wesel auf und begann schon als Schüler mit dem Zeichnen von Comics. Mit 16 Jahren entdeckte er die Mod-Subkultur, die ihn bis heute prägt. Er gestaltete zahlreiche Flyer für Szene-Partys und Allnighter.
1991 zog Dahmen nach Düsseldorf und studierte dort Visuelle Kommunikation mit Schwerpunkt Illustration. Seine Diplomarbeit "Poetry And All That Jazz" widmete sich dem Beat-Poeten Jack Kerouac. 2008 zog er nach Utrecht in die Niederlande, wo er als Comiczeichner und Illustrator für Werbeagenturen, Presse und Verlage tätig ist.
Columbusstraße ist dein neues, lang erwartetes Projekt und steht dem Vorgänger Fahrradmod in Sachen Umfang in nichts nach. Kannst du uns eingangs ein wenig über die Hintergründe erzählen? Wann hast du mit dem Comic angefangen und was hat dich dazu bewegt?
Als Comiczeichner bin ich ja immer auf der Suche nach Geschichten. Und weil ich bisher meist autobiografisch gearbeitet habe, lag es auch nahe, die Geschichten, die mir meine Eltern erzählt haben, mal unter die Lupe zu nehmen, ob man diese weitererzählen könnte. Um sie schlichtweg irgendwie aufzubewahren, habe ich meine Eltern interviewt und damals mit einem iPod mit aufgestecktem Mikrofon aufgenommen. Das Gespräch mit meinem Vater habe ich auf einer langen Zugreise nach Dresden geführt. Er wollte ein wenig Zeit mit mir verbringen und so dachte ich, da können wir uns ja mal über früher unterhalten. Er hatte mir natürlich schon einiges erzählt, aber ich hielt es für hilfreich, das mal einigermaßen geordnet zu haben. Und so habe ich dann später auch meine Mutter befragt.
Diese beiden Interviews waren dann eigentlich das Grundgerüst für die Geschichte. Aber wie das immer so ist, erstmal wollte ich die Fahrradmod-Geschichte zeichnen und außerdem ist ja immer irgendwas, was einen davon abhält, solche großen Projekte in Angriff zu nehmen. Bis man eben, wie man im Buch lesen kann, merkt, dass alles mal endet, und man die Zeit nutzen sollte, die man hat. Ich bedaure sehr, dass ich meinen Vater nicht noch mehr fragen kann. Sein Tod war es, der mich dazu veranlasst hat, diese Geschichten nicht nur aufzubewahren, sondern zeichnen zu wollen. Im Idealfall nicht nur für mich.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Umgang mit der Vergangenheit in Deutschland erstmal von Schweigen geprägt. Wie war das in deiner Familie? Was hast du über diese Zeit von deinem Vater und seinen Geschwistern, was von deinem Großvater erfahren? Inwiefern haben die Berichte aus dem Nachlass deines Vaters deinen Blick auf deine Familie verändert?
Im Grunde wurde in unserer Familie geschwiegen, wie in den meisten anderen deutschen Familien, die den Krieg miterlebt haben auch. Aber vor allem von den Verantwortlichen, den Mitläufern und Tätern. Meine beiden Eltern haben den Krieg allerdings als Kinder erlebt, beide waren nicht besonders traumatisiert, wenn ich mir das Urteil überhaupt erlauben darf, auch wenn sie beide auch Schreckliches erlebt haben. Sie haben uns schon als Kinder viel erzählt, von dem vermissten Onkel, von Opa im „Zuchthaus“, von der Pflegefamilie im Schwarzwald, deren Vater von den Nazis erschossen wurde. Es ist komisch, wenn ich jetzt die Bilder, die ich davon als Kind hatte, mit meinen Recherchen abgleiche.
Ich musste aber auch tatsächlich einige Familienerzählungen an die Wirklichkeit angleichen, es ist nicht schön, was man in den Briefen liest, abgesehen von der Liebe für die Familie. War mein Großvater zwar ein Regimegegner, was vor allem mit seinem katholischen Glauben zu tun hatte, so war er aber auch wie so viele andere Nationalist und hatte Ressentiments gegenüber der jüdischen Bevölkerung. Es schmerzt natürlich, sowas zu lesen. Er ist damit aber eben leider auch ein typischer Vertreter des katholischen Milieus dieser Zeit. Es ist nicht so schwarzweiß, wie wir uns das immer gerne vorstellen wollen. Diese Zeit besteht aus sehr vielen, meist sehr dunklen Grautönen. Die Briefe meiner Onkels sprechen ebenfalls eine deutliche Sprache. Sie haben Schreckliches erlebt und sie hätten sicherlich lieber was anderes mit ihrem Leben angefangen, aber gleichzeitig sind sie beide nach Jahren der Indoktrination freiwillig in einen Vernichtungskrieg gezogen, in dem Millionen Menschen umgebracht wurden. Und daran haben sie mitgewirkt, genauso wie die Menschen, die dieses System zuhause unterstützt haben, einem System, dem es immer nur um den Krieg und Vernichtung ging.
Comics von Tobi Dahmen
Magst du uns ein bisschen über die Entstehung von Columbusstraße verraten? Wie hast du für dein Projekt recherchiert? Welche Quellen hast du außer den Briefen und Tagebüchern deiner Familie herangezogen?
Nach dem Tod sind wir natürlich alles durchgegangen, was er uns hinterlassen hat, und da tauchte dabei eben auch eine Menge auf, was ihm von seiner Familie, seinen Eltern hinterlassen wurde. Eine hundert Jahre alte Pappschachtel meines Großvaters, in der mal Unterwäsche verkauft wurde, und in denen sich zahlreiche Briefe aus dem Ersten Weltkrieg befanden. Dabei auch einige Briefe seiner Söhne von der Ostfront. Und eine Mappe, die den Titel „Erinnerungen“ trägt, mit den Briefen meines Onkels Eberhard. Und so entdeckte ich immer mehr, alte Lebensläufe, alte Zeitungsausschnitte, Briefe, Postkarten, alte Fotoalben, teilweise auch schon aus dem Ersten Weltkrieg, aber auch viele Dokumente. Es hat dann erstmal ein paar Jahre gedauert, das ganze Material zu sichten, zu transkribieren, wofür ich auch Hilfe brauchte, weil ich die Kurrentschrift meines Großvaters gar nicht mehr lesen kann.
Dann hab ich alle Ereignisse, die dokumentiert sind, geordnet und in einen Zeitstrahl arrangiert, und die historischen Ereignisse, aber auch die regionalen Geschehnisse ebenfalls hinzugefügt. Das gleiche habe ich dann auch mit den Erzählungen meiner Mutter gemacht. Die ersten vier Jahre war ich also on und off vor allem mit der Recherche beschäftigt und hab auch viele Bücher zum Thema gelesen. Außerdem habe ich noch viele Orte besucht, an denen sich alles abgespielt hat. Besonders war, dass ich sowohl das Haus meiner Großeltern besuchen konnte sowie das Haus des Villingener Münsterorganisten, bei dem mein Vater untergebracht war, um ihn vor den Bombenangriffen zu schützen. Angefangen zu zeichnen hab ich dann im Januar 2020, kurz bevor Corona begann. So konnte ich mich während dieser Zeit zwar abends gut beschäftigen, auf der anderen Seite war es schwierig, Recherchereisen zu machen oder Archive zu besuchen. Ich hätte beispielsweise gerne noch mehr im Militärarchiv in Freiburg recherchiert, ob ich da noch etwas zu meinen Onkels gefunden hätte, aber dazu ist es nicht mehr gekommen. Die Recherche geht natürlich weiter, das Thema interessiert mich ja weiterhin. Wir haben beispielsweise noch kurz vor Drucklegung eine neue Entdeckung des Stadtarchivs Wesel eingebaut.
Große Teile von Columbusstraße erzählst du anhand der Briefe von Peter und Eberhard von der West- und Ostfront. Da die beiden nicht die Wahrheit über das an der Front Erlebte (und Verbrochene) nach Hause schreiben konnten, sind die Briefe höflich distanziert, fast belletristisch und doch kriegt man manchmal den Eindruck, dass sie zwischen den Zeilen noch eine andere Geschichte erzählen. Wie bist du dabei vorgegangen, die "Wahrheit" ihrer Erlebnisse herauszufiltern und auf der Zeichenebene umzusetzen?
Es wird viel darüber diskutiert, wie viel man schreiben durfte, und was nicht. Jeder Brief wurde sicherlich nicht gelesen und zensiert. Dafür waren es einfach zu viele. Es gibt zahlreiche Briefe, die explizit beschreiben, was die Deutschen dort anrichteten. Es gibt ja auch zahlreiche private Fotos davon. Ich denke, meine Onkels haben einerseits mit manchen Informationen hinter dem Berg gehalten, weil meine Großmutter sich sehr viel Sorgen um sie machte, und sie sie in dieser Sorge nicht auch noch bestätigen wollten. Mein jüngerer Onkel Peter schrieb schon deutlicher über das, was er erlebt hat. Mein Onkel Eberhard wollte sich vielleicht auch nicht kritisch äußern, weil er eine Offizierskarriere anstrebte. Meine persönliche Interpretation ist, dass er das wollte, um aus der Schusslinie zu kommen. Er war dem Krieg schon allein körperlich kaum gewachsen.
Es sind also Schutzmechanismen für sich selbst und andere. Auf der anderen Seite wollte ich natürlich abbilden, was sich dort abgespielt hat und nichts beschönigen. Eine wichtige Quelle war das Buch „Wehrmacht im Ostkrieg” von Christian Hartmann, das mehrere typische Divisionen untersucht hat, und eben auch, wie viele Kriegsverbrechen sie gesehen haben dürften oder ob sie an welchen beteiligt waren. Eberhards Einheit war eine der Studienobjekte. Aber natürlich ist auch der Zeitpunkt entscheidend, wann waren sie wo? Am Ende bleiben aber viele Fragen. Es gibt immer mehrere Optionen, wie etwas abgelaufen sein könnte. So etwas hab ich dann mit verschiedenen Puzzleteilen inszeniert. Dass beide aber ein Teil der 'Exekutive' eines überaus verbrecherischen Regimes waren ist natürlich eindeutig.
Obwohl es in Columbusstraße vordergründig nicht um die Vernichtung der Juden in Deutschland geht, zeigst du in etlichen Szenen die Allgegenwart der Zwangsarbeiter*innen in den deutschen Städten, ob in der Kriegsindustrie oder den Räumarbeiten nach Bombardierungen. Das machst du vor allem in der Geschichte der Familie Funcke, den Eltern deiner Mutter, deutlich. Kannst du auf diesen Aspekt deiner Erzählung eingehen?
Das Mantra der Nachkriegszeit ist ja gewesen: wir haben es nicht gewusst. Wie viel Deutsche von den Vernichtungslagern im Osten wussten, darüber wird immer viel diskutiert. Mit diesen Szenen wollte ich aber zeigen, dass natürlich jedem klar sein musste, wie die jüdische Bevölkerung, mit der sie eben noch Tür an Tür gewohnt haben, behandelt wurde. Wie viele Menschen verschwanden. Und Zwangsarbeiter*innen waren eben allgegenwärtig, ausgemergelte Gestalten, die die Bombenschäden aufräumen mussten, und bei Alarm nicht in die Luftschutzbunker durften. In so vielen Betrieben waren Zwangsarbeiter*innen beschäftigt, vom Bauernhof bis zur Rüstungsindustrie, der mein Großvater mütterlicherseits zugearbeitet hat.
Die Umstände in den Außenlagern, in denen die Zwangsarbeiter*innen untergebracht waren, waren verheerend, am schlimmsten wohl in den ersten Kriegsjahren. Und teilweise befanden sich diese Lager mitten in der Stadt. Man konnte also wirklich nicht behaupten, man hätte von diesem Unrecht nichts gewusst. Darum wollte ich diesen Aspekt auf jeden Fall abbilden. Außerdem ist es kein Zufall, dass die Wannsee-Konferenz so kurz nach der Niederlage der Wehrmacht vor Moskau einberufen wurde. Der Holocaust war ein Kriegsziel. Ich hätte es grundfalsch gefunden, darauf nicht auch noch einzugehen. Auch wenn der Holocaust in den Erzählungen meiner Familie kaum vorkommt, wie leider in den meisten deutschen Familienchroniken nicht.
Hast du einen Wunsch, welche Art Reaktion und Debatten deine Graphic Novel auslösen soll?
Vielleicht macht mein Buch es der/dem einen oder anderen Leser*in einfacher, sich mit unserer Geschichte zu befassen, ohne dicke Geschichtsbücher zu wälzen, vielleicht ist meins ein wenig niedrigschwelliger. Und im Anhang erfährt man in kompakter Form noch mehr zu den politischen und familiären Hintergründen der Geschichte. Gleichzeitig möchte ich damit jeden ermuntern, sich mit der eigenen Familiengeschichte zu beschäftigen. Und in der eigenen Familie Fragen zu stellen, und sich darüber zu unterhalten. Es verbindet uns am Ende. In meinen jungen Jahren habe ich mich da auch noch nicht so sehr für interessiert, man dreht sich ja vor allem um sich selbst. Wie kostbar diese Aufnahmen für mich wurden, hab ich erst später gemerkt. Und sie trösten auch, wenn plötzlich der alte MP3-File wieder in meine Playlist gespült wird und mein Vater wieder mit mir spricht. Heute ist es noch viel einfacher, jeder hat mit seinem Smartphone ein ziemlich gutes Aufnahmegerät in der Tasche.
Und ich würde mir wünschen, dass wir uns realisieren, was wir erreicht haben seitdem. Und wie kostbar das ist, dass wir alle gefragt sind, unsere Demokratie zu beschützen. Ehrlich gesagt war auch die sogenannte „Flüchtlingskrise“ von 2015 ein motivierender Faktor. Ich war entsetzt zu sehen, wie wenig Empathie da vorhanden war, nur ein Menschenleben später als es Millionen von Flüchtlingen gab, innerhalb von Deutschland. Ich verstehe einfach nicht, wie wir so vergesslich werden konnten. Und dagegen möchte ich etwas tun, mit meinen Mitteln. Und wir sollten bei all unseren Entscheidungen, gerade vor Wahlen auch immer bedenken, dass wir für unsere Kinder mitentscheiden, die das noch nicht dürfen. An Aktualität mangelt es ja gerade nicht, wir sehen jeden Tag was Krieg anrichtet. Wohin Nationalismus und Ausgrenzung führen. Der Jahrgang der Soldaten, der die meisten Opfer im Zweiten Weltkrieg verzeichnete, war der Jahrgang 1921, der Jahrgang meines Onkels Eberhard. Wie gesagt, ich kann mir vorstellen, dass er lieber etwas anderes im Sinn hatte als bei diesem Terror mitzumachen. Aber er war 1933 erst 12 Jahre alt.