Manga zeichnen lernen: Der "Wow"-Faktor

Du hast eine Idee für ein Wahnsinns-Motiv? Die darauffolgende Skizze gelingt fantastisch, das Nachziehen der Linien flutscht? Doch was tun mit diesem zukünftigen Meisterwerk? Wie stellst Du sicher, dass es wirklich (fast) perfekt wird? Dieser Schritt der Ausarbeitung und des „Daran-Herumfeilens“ wird hier erläutert.

Die perfekte Grundlage

Ich möchte Dir heute näherbringen, wie sehr man sich in den Feinheiten eines Bildes verlieren kann. Das kann positiv sein, da man so sein Zeichen-Level hebt, weil man sich so viel Mühe gibt. Es kann aber auch dazu führen, dass man sich selbst verrückt macht, weil man immer das Gefühl hat, nie genug getan zu haben. Ein zweischneidiges Schwert!

Beginnen wir mit der Skizze bzw. dem Lineart. Dieser Charakter ist die Hauptfigur einer Geschichte der sympathischen Ed. Ich habe meinen Arbeitsprozess dokumentiert und Ed hat mir freundlicherweise erlaubt, diese Illustration für das Tutorial zu nutzen. Während des Zeichnens habe ich meine Figur immer mal wieder gespiegelt, um zu prüfen, ob das Gesicht nicht schief ist und die Komposition ausgewogen.

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Fertig! Oder?

Da im Bild selbst schon viel „passiert“, würde es vielleicht reichen, einen grauen Raster-Verlauf hinter die Figur zu legen. So werden die schwungvollen Linien und ihr perfekter Körper schon gut betont. Das reicht uns aber natürlich nicht! Wie könnte man jetzt also noch „mehr“ herausholen?

Meine kritischen Gedanken als Profi dazu:

  • Ihr Gesicht muss noch mehr betont werden, durch die vielen Details fehlt der Fokus.
     
  • Sie schwebt im leeren Raum, das sieht seltsam aus.
     
  • Der Hintergrund ist nichtssagend.

Kontraste gehen immer

So ein kraftvolles, energiegeladenes Bild verträgt Kontraste! Ich entscheide mich, ihren Umhang schwarz zu färben aber in Abstufung mit Schraffuren, um die Grobheit des Mantelstoffes zu betonen. Dadurch wirkt ihre Haut im Kontrast viel weicher. Außerdem fokussiert das Auge des Betrachters nun besser auf ihr Gesicht.

Auch ihre Haut könnte ein paar Schattierungen vertragen. Da das Bild schwarz-weiß bleiben soll und ich die Optik von traditioneller Rasterfolie mag, werde ich unsere Dame digital rastern. Dabei beachte ich einige wichtige Regeln, über die wir gleich sprechen werden.

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Das „Kratzen“ von Rasterfolie

Vielleicht ist Dir beim Lesen von Manga schon mal aufgefallen, dass manche Zeichner Schatten nicht hart enden lassen, sondern etwas "absoften". Früher, als ausschließlich traditionell mit Rasterfolie gearbeitet wurde, erreichte man diese softe Optik durch das vorsichtige Abkratzen der aufgedruckten Rasterpunkte mittels Cutter.

Im heutigen digitalen Zeitalter lassen sich Raster bequemer und kostengünstiger nutzen. Du investierst einmal in ein Grafikprogramm und kannst so viel rastern und so viele „Folien“ nutzen, wie Du möchtest. Das kann manchmal aber auch überfordern. Welche der 500 Folien sollte man denn nun nehmen?

Über das Rastern allein könnte man zig Tutorials schreiben, deshalb fokussieren wir heute nur auf einen kleinen Aspekt: Dem digitalen „Kratzen“, wie ich es nenne.

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Ein paar einfache Regeln

  1. Rasterpunkte sollten immer im 45 Grad Winkel stehen. Programme wie Clip Studio richten euch die Raster automatisch nach 45 Grad aus.
     
  2. Weiche oder weit entferne Oberflächen sollten mit „engen“ Raster schattiert werden. Ich z.B. rastere Haut immer mit 60L-Rastern (60 steht hierbei für die Dichte und ist der höchste Wert bei traditionellen Rastern).
     
  3. Lieber zu hell, als zu dunkel rastern. Geschmackssache aber dunkle Raster machen Manga-Seiten schwer und bedrohlich. Sie sollten als Akzent oder in wirklich düsteren Nachtszenen eingesetzt werden.
     
  4. Kratzen ist schwer und erfordert Übung. Aber es gibt nichts Befriedigenderes, als toll gekratzte Raster. Habe Geduld mit Dir selbst! 

Und so kratzt Du digital: Mit einem weißen, sehr dünnen Pinsel oder dem Radierer kannst Du digital einen Cutter-Strich nachahmen. Beachte dabei unbedingt: Gekratzt wird nicht im 45 Grad bzw. 90 Grad Winkel!

Im linken Bild siehst Du, was für unschöne Schlieren dabei entstehen. So wirst Du keinen soften Übergang erzielen. Der Winkel muss etwas spitzer sein. Drehe dazu das „Blatt“ etwas mit dem Rotationswerkzeug, um Dir die Arbeit zu erleichtern. Korrektes Kratzen erinnert an eine kleinteilige Perlenkette.

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Details, Details, Details

Um die hellen Haare des Mädchens zu betonen, zeichne ich noch einige Glanzschraffuren ein. Außerdem benutze ich erneut einen weißen Pinsel, um feine Haarsträhnen und Wimpern hervorzuheben. Solche Details werden den meisten Betrachtern gar nicht auffallen aber wenn der Perfektionismus erstmal um sich greift …

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Die Möglichkeiten an den Figuren herumzuschrauben, sind endlos. Doch irgendwann solltest Du den Stift auch ruhen lassen, Deiner Gesundheit zuliebe. Behalte immer das eigentliche Ziel vor Augen: Ein fertiges Bild. Nichts ist tragischer, als wenn Dir mittendrin die Puste ausgeht. Denn ein weiterer, wichtiger Faktor eines Bildes sollte ein schöner Hintergrund sein, dem Du im Idealfall genauso viel Liebe schenkt, wie den Figuren.

Wolkenmeer

Die Idee, einen grauen Verlauf hinter unser Mädchen zu legen, ist nicht schlecht. Die Figur wird dadurch noch mehr hervorgehoben und man sieht die weißen Strähnen besser, die ich im vorherigen Schritt eingezeichnet habe. Im unteren Beispiel wird allerdings deutlich, dass ich eigentlich schon keinen Bock mehr hatte. So geht das natürlich nicht!

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So lieblos gekleckste Wolken ziehen die Qualität des ganzen Bildes herunter. Und anstatt die Wolken zu kratzen, habe ich einfach mit meinem Grafikprogramm und dem Airbrush-Werkzeug herumgemalt. Das beißt sich jetzt natürlich, denn die Figur selbst ist ja sehr liebevoll gerastert. Der Betrachter sollte nicht erkennen, wann Dich die Lust beim Zeichnen verlassen hat. Schauen wir also mal, ob wir das nicht noch besser hinkriegen.

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Hier haben wir ein Beispiel für einen wirklich hervorragend gekratzten Himmel und ein sehr liebevoll ausgearbeitetes Meer. Es ist wirklich erstaunlich, was nur mit schwarzen Punkten und einem Cutter möglich ist, oder? Außerdem habe ich der Figur endlich einen Schatten unter die Beine gelegt, damit sie nicht mehr „schwebt“.

 

Damit sind wir eigentlich durch, oder? Nicht ganz, denn mir kommt noch die Idee, die Frische des Bildes mit ein paar (digitalen) Deckweißspritzern aufzupeppen. Sie sollen die Gischt des Wassers darstellen.

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Fertig! Und wie bei allen Bildern sollte sich auch irgendwo eure Signatur wiederfinden.

Damit wären wir am Ende angekommen. So viel Aufwand für ein „einfaches“ Schwarz-Weiß-Bild, oder? Das Los vieler Mangazeichner*innen, haha.

Denk immer an ausreichend Pausen während dieser Art des „perfektionistischen Arbeitens“. Wenn Du merkst, dass Du schluderst, leg den Stift weg und arbeite später weiter. Und bei allem Perfektionismus: Das Wichtigste ist die tatsächliche Fertigstellung des Bildes. Dann kannst Du es zufrieden weglegen und sagen “Ich habe heute wieder eine Menge gelernt.“.

 

Autorin dieses Artikels:

Inga Steinmetz lebt und arbeitet in Berlin; geboren wurde sie in der ehemaligen DDR. Zurzeit wohnt sie in der Nähe der East Side Gallery. Im Alter von 15 Jahren begann sie, zielgerichtet Geschichten zu schreiben und Comics zu zeichnen.